Die Tourneeausstellung
ein ko-kreativer Prozess
von Ellen Strittmatter
15.06.2021
Ellen Strittmatter, Leiterin der Abteilung Kunst am ifa, erläutert, wie die ifa-Tourneeausstellung EVROVIZION.CROSSING STORIES AND SPACES zustande kam und welche Prozesse, Erfahrungen und Ideen in das Projekt einflossen.
Als die Planungen zu EVROVIZION.CROSSING STORIES AND SPACES vor zwei Jahren starteten, war die Welt noch eine andere. Eine ihrer wesentlichen Antriebskräfte, die Kultur, war in vielerlei Hinsicht im Aufbruch begriffen und hatte bahnbrechende Ideen zu neuen Möglichkeiten des kreativen und oftmals gemeinschaftlichen Schaffens, des Umsortierens und alternativen Einordnens kultureller Phänomene sowie des vielgestaltigen Aushandelns kulturpolitischer Fragen entwickelt. Vor diesem Hintergrund wollte das neue Ausstellungsprojekt des ifa die vorhandenen Strukturen des weltweiten Ausstellens nicht nur hinterfragen und neu denken, es wollte auch neue Möglichkeiten für künstlerische und kuratorische Prozesse sowie für eine durch die Kunst angestoßene gesellschaftliche Transformation eröffnen. Zwei wesentliche Annahmen oder Ausgangspunkte galt es zu verhandeln: zum einen die Idee und Entwicklung eines ko-kreativen Prozesses als Initialmoment und treibende Kraft des Vorhabens und zum anderen den Denkraum Europa als dessen inhaltlichen Kern. Die wertvollen Erfahrungen, die bei der Realisierung von zahlreichen ifa-Tourneeausstellungen in den vergangenen Jahren gemacht wurden, flossen in die Konzeption des neuen Ausstellungstypus ein und schufen somit die Voraussetzungen für EVROVIZION. Zu diesen Ansätzen gehörten unter anderem die konkrete Auswahl der Region, ein ergebnisoffenes Zusammenkommen in Sarajevo, die Gleichstellung von lokalen künstlerischen und kuratorischen Positionen, die Schaffung von ko-kreativen Räumen innerhalb der Ausstellung, die Sichtbarkeit der Sprach- und Schriftvielfalt und die Prozesshaftigkeit des Projektes.
Zur Idee der Ko-Kreation gehört die enge Zusammenarbeit mit internationalen Kurator:innen – und so fand sich 2019 Sanja Kojić Mladenov, die gemeinsam mit Sabina Klemm die künstlerischen Positionen der Kernausstellung auswählte und all jene Prozesse weiter mitgestaltete, die während der mehrjährigen Tournee in gemeinschaftlicher Entwicklung mit lokalen Akteur:innen und der jeweiligen lokalen Kunstszene realisiert werden sollten. Mit ihrem gemeinsam entwickelten Verständnis für die aktuellen Herausforderungen der Thematik und den Wert der Prozesshaftigkeit in kollaborativen Projekten, vor allem aber mit ihrem feinen Sensorium für ortsspezifische Impulse, gaben Sabina Klemm und Sanja Kojić Mladenov dem Projekt seinen konzeptuellen Zuschnitt: EVROVIZION nahm als eine Auseinandersetzung mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation Europas und der Idee einer europäischen Identität Gestalt an.
Im Fokus der Aufmerksamkeit sollten weniger sichtbare und marginalisierte kulturelle Räume, insbesondere Orte in Südost- und Osteuropa, stehen. Dabei handelt es sich um einen geografischen „Raum der Vielfalt und der kulturellen Diversität“. Ein Gebiet, das das politische und kulturelle Europa herausfordert durch seinen – wie der Künstler Adnan Softić es formuliert – „Überschuss an Geschichte, die Unordnung der Gegenwart und die Ungewissheit der Zukunft“. Kaum eine Region Europas hat in den vergangenen Jahrzehnten so viele Erfahrungen in puncto Migrationsbewegungen, Integrationsprozessen und Sprachvielfalt gesammelt wie Südosteuropa. Den europäischen Gedanken von hier aus zu denken, wurde zum zentralen Anliegen des Vorhabens.
In dem Augenblick, als das Projekt Form angenommen hatte und die künstlerischen Positionen der Kernausstellung feststanden, breitete sich weltweit die Pandemie aus und legte alle Planungen lahm. Die Auftaktveranstaltung in Sarajevo, die den zukünftigen Dialog eröffnen sollte, musste ausfallen. Das reale Get-together als Start in eine mehrere Jahre währende interdisziplinäre, künstlerische Produktion war nicht mehr möglich. Begegnung, Austausch und gemeinsames Agieren schienen in weite Ferne gerückt, wenn nicht sogar dauerhaft gefährdet. Dem Mut und Engagement der Künstler:innen, der Kurator:innen, des Ausstellungsteams sowie aller mitwirkenden Akteur:innen ist es zu verdanken, dass aus einem Moment der Schockstarre kein Stillstand wurde. Das Gegenteil war der Fall: Das Projekt sortierte sich neu und begann an der Herausforderung zu wachsen. Die Beteiligten konnten sich zwar zunächst nicht mehr am physischen Ort begegnen, entdeckten aber ungeahnte Möglichkeiten im digitalen Raum. Eine neue Form der Annäherung und des Miteinanders fand ihren Ausdruck in programmatischen Videobotschaften und Texten. In der Zwischenzeit ist EVROVIZION, das bereits als Projekt eines laufenden Aushandlungsprozesses konzipiert war, im Epizentrum der Veränderung angekommen. In einer aus den Fugen geratenden Welt kann das Projekt – zum einen, weil es sich auf die eigene Prozesshaftigkeit eingelassen hat, und zum anderen, weil es auf Langfristigkeit und nachhaltige Beziehungen angelegt ist – mehr denn je als eine Sonde im aktuellen gesellschaftspolitischen und kulturellen Geschehen fungieren. Es wird mit jeder Station einer analogen wie digitalen Tournee zum Gradmesser, zum Seismografen für den Wandel selbst.
Heute stehen wir am Beginn einer gemeinsamen Reise, die voraussichtlich 2027 in Berlin ihren Abschluss finden und uns vielleicht ein neues und unbekanntes Bild von Europa aufzeigen wird.