Das Nicht-Wissen stellt sich vor
Von Adnan Softić
01.08.2020
Das neue ko-kreative Ausstellungsprojekt des ifa EVROVIZION.CROSSING STORIES AND SPACES möchte sich während einer mehrjährigen Tournee mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation in Europa auseinandersetzen. Als erste öffentliche Veranstaltung war ein Get-together in Sarajevo geplant, doch das Coronavirus machte das Zusammentreffen der Projektbeteiligten unmöglich. In seinem Essay macht sich der in Sarajevo geborene und in Berlin lebende Autor, bildende Künstler und Regisseur Adnan Softić seine Gedanken über das Virus und den Umgang mit der Pandemie.
Vor fast zwei Jahrzehnten, relativ kurz nach dem 11. September 2001, tauchten in den Medien Fotos des damaligen US-Präsidenten George W. Bush auf, auf welchen er mit deutlichen Abschürfungen an seiner linken Wange und einer kleineren Verletzung an der Unterlippe zu sehen ist. Er sah aus, als ob ihm jemand einen Schuh ins Gesicht geschleudert hätte. Doch dazu soll es nicht gekommen sein – zu jenem Zeitpunkt nicht und auch zu keinem späteren. Der Präsident hatte sich beim Fernsehen an einer Brezel verschluckt, was seinen Vagusnerv reizte.1 Dieser Nerv signalisierte seinem Herz, die Schlagfrequenz zu reduzieren, und dies wiederum führte zu einer kurzen Ohnmacht und zu einem Sturz…
Während der größten Krise seines Landes seit dem Zweiten Weltkrieg wird der am besten geschützte Mensch der Welt beinahe von einer Brezel getötet. Der Sicherheitsapparat hatte sie nicht auf dem Radar. Ein winziges Stückchen Brot verwies für einen Moment auf die in jedem Abwehrsystem vorhandenen Risse – bevor alles schließlich in Vergessenheit geriet, einfach deshalb, weil solche Gefahren nicht kalkulierbar sind. Die Akte "Brezel" ist geschlossen, ein hinnehmbarer Kontrollverlust. Punkt.
Deswegen hatte jener Vorfall keinerlei Konsequenzen, und das Leben ging ungestört weiter: Der Krieg gegen den Terror mitsamt des Totalüberwachungspakets namens "US Patriot Act" setzte sich durch. Den Zwang, alle denkbaren Bereiche des Gesellschaftskörpers vollständig unter Kontrolle zu bekommen, könnte man auch als eine ironische Lehre aus dem Fall "Brezel" verstehen.
Bevorzugte Feindschaften und eingespielte Phobien
Heute hat eine primitive biologische Struktur – dumm wie Brot, könnte man meinen – es innerhalb von wenigen Wochen geschafft, die mächtigsten Länder der Welt stillzulegen und ihren Menschen die ersten Erfahrungen einer Ausnahmesituation zu schenken. Die Welt, die man kannte, dreht sich zurzeit nicht mehr. Und hier geschah das Unglück ebenfalls so, wie es kein Katastrophenszenario vorstellte.
Es war zu sehen, dass die Regierenden dieser Welt unvorbereitet waren, und es wurde offensichtlich, dass die vorhandenen wissenschaftlichen Expertisen im Hinblick auf Pandemien keine Bedeutung für sie hatten. Es gab keine Schublade mit ansatzweise passenden Maßnahmeplänen, und wenn es sie gab, dann wurden sie schlichtweg ignoriert. Obwohl eigentlich alle wissen, dass eine Pandemie jederzeit ausbrechen kann, kam sie wie aus einem blinden Fleck hervor, stoppte alles und zeigte auf, dass die Horizonte der Sicherheit anders verlaufen als gedacht.
Die bevorzugten Feindschaften und gut eingespielten Phobien lassen glauben, dass der Weltuntergang durch einen atomaren Krieg, einen terroristischen Anschlag oder die durch Migration verursachte Überschreibung der Identität am wahrscheinlichsten ist. Solche bereits festgelegten Untergangsphantasien fungieren als Grundlage, um auszuwerten, was letztendlich systemrelevant ist und an welchen Stellen stattdessen gespart werden muss. Verkürzt: was Wert hat und was nicht. Mit unbekannten Viren rechneten die Regierenden dieser Welt offensichtlich nicht.
Umso spannender ist die aktuelle Erkenntnis, dass plötzlich notorisch unterbezahlte Supermarktangestellte, Menschen in Versorgungsberufen beziehungsweise versorgende Institutionen oder ganz allgemein die unsichtbare reproduktive Arbeit – wie das Waschen, die Pflege oder das Kochen – wesentlich wertvoller scheinen als beispielsweise das unbezahlbare Patriot-Raketenabwehrsystem oder noch teurere Überwachungssysteme. Doch was tun mit diesen Einsichten? Geht das Leben nach der Pandemie wie gewohnt weiter, oder werden sich die Parameter, die die „eigentliche“ Gefahr definieren, verschieben und mit ihnen das Wertesystem?
Große Veränderungen haben nicht nur einen Anfang, sondern immer mehrere. Ich denke an all die Katastrophen, die schon zur Gewöhnung geführt haben, weshalb sie nicht mehr wahrgenommen werden. Viele Millionen von Menschen sterben jährlich an Hunger, an Malaria, an den Folgen des Klimawandels, in Kriegen… Phänomene, die seit Langem und ununterbrochen Migrationsprozesse auslösen, die Europa wiederum zu ignorieren versucht. Jene bekannten Katastrophen finden allerdings auf mehr oder weniger übersichtliche Weise statt – in angemessenem Abstand, der mithilfe von festen Grenzziehungen gepflegt wird. Wir sind daran gewöhnt, ja, sie sind zu einem Bestandteil unserer Kultur geworden. Sie sind Marker, die wir hinterlassen werden. Die künftigen Generationen werden uns korrekterweise mit diesen Markern in Verbindung bringen.
Es drängt sich ein Gedanke auf: Wenn das allgemeine Verhalten wegen COVID-19 so radikal verändert werden konnte, sollten wir es dann nicht bei allen anderen Katastrophen ebenso ändern?
Der Andere ist gleich der eigene Tod
In physischer Hinsicht sind die Horizonte in der Isolation sehr beschränkt, die Horizonte der Imagination hingegen sind jetzt unendlich offen. In unterschiedlichen Inkubations-Denkräumen wird die neue Zeit nach dem Virus fleißig imaginiert.
Die Politik des nationalen Körpers, die unter anderem immer schon dem Glauben untergeordnet war, dass sich alles kontrollieren ließe, wird keineswegs durch Sars-Cov-2 eines Besseren belehrt. Im Gegenteil: In ihrer Denkweise bestätigt sich gerade die Vorstellung gesellschaftlicher Gesundheit, ethnischer und kultureller Hygiene, mit der sie auch zuvor operierte. Ihrem Verständnis nach stand die Krankheit immer schon für etwas Fremdes, das von außen das intakte souveräne Subjekt infiziert und zerstört. Die Migranten und Migrantinnen selbst, ebenso wie alle anderen, die diesem Subjekt irgendwie fremd vorkommen, mutieren in diesem Weltbild zu Viren und werden als Aggressoren wahrgenommen. Die "Finde-den-Erreger-Brill" setzt imaginäre Effekte frei, die eine ernstzunehmende Krankheit in eine totalitäre Katastrophe verwandeln könnten. Das souveräne Subjekt meint andere bekämpfen zu müssen, um selbst Erfolg zu haben – und so wird jede Art von Regression, Abbau und Ableben automatisch mit dem Anderen in Verbindung gebracht oder verkürzt gesagt: Der Andere ist gleich der eigene Tod. Die Kontrollgesellschaften müssen jetzt nicht mehr fürchten, dass der Terrorismus als Rechtfertigung für außerordentliche Maßnahmen ausgedient hat. In vielen Ländern zeigt sich gerade eine fortgeschrittene Neigung, den Ausnahmezustand in ein normales Regierungsparadigma zu überführen: Intelligente Überwachung und andere automatisierte exekutive Werkzeuge sind für ihre Anwendung auf dem Markt der Angst reif. Dessen dunklen Horizonte zeichnen sich bereits ab: Mit ausgefeilten technischen Entwicklungen nähert sich China der totalen Überwachung, und damit einher geht die Disziplinierung aller gesellschaftlichen Abläufe. Videoüberwachungen in privaten Räumen, frei von toten Winkeln, ermöglichen den Kontrollorganen einen panoptischen Einblick in das private Leben der unliebsamen Minderheiten… In den geleakten China Cables heißt es: "Ideologische Widersprüche sind effektiv aufzulösen und negative Gemütszustände zu beseitigen."2 Die Bezeichnung "negative Gemütszustände" verweist auf eine psychische Störung – ein Staat verwandelt sich damit in ein vereinsamtes Subjekt und besitzt Gefühle. Diese Entwicklung ist nichts Neues, sondern eine Fortsetzung der Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Identitätsneurotische Nationalstaaten drohen wieder einmal aufeinanderzuprallen.
Membrane und Grenzbereiche statt fester Grenzen
Es gibt aber noch eine andere Sichtweise, die aus dieser Krankheit eine gänzlich andere Metapher generiert. Die globale Wirtschaft, die Kulturindustrie und die Wissenschaft bemühen sich zu erklären, dass kein getrenntes Selbst existiert und dass Mutationen und Veränderungen als wesentliches Triebwerk der Entwicklung zu verstehen sind. Man spricht nicht mehr von festen Grenzen, die das eine vom anderen trennen, sondern von Membranen und Grenzbereichen, die Durchlässigkeit und Abgrenzung gleichzeitig auftreten lassen. Wir beobachten einen ständigen Austausch unterschiedlicher Naturprozesse und entdecken, dass Entitäten veränderbare Größen sind. In uns Menschen leben andere komplexe Einheiten und wir sind in einer noch komplexeren Einheit eingebunden. Das Bild des souveränen und getrennten Selbst erscheint vor diesem Hintergrund sehr fragwürdig, gar falsch, und es hilft nicht weiter. Das Andere und das Selbst stehen sich nicht mehr gegenüber, sondern durchdringen sich gegenseitig auf der Suche nach einem Gleichgewicht. Diese Pandemie ist ein Beweis, dass es eine andere Normalität und ein anderes Selbstverständnis braucht, um dieses Gleichgewicht und so etwas wie Allgemeinwohl herstellen zu können.
Hat das Virus eine Ideologie?
Es ist eine grundsätzliche Frage, ob sich eine Pandemie überhaupt als Botschafterin eignet und inwiefern es sinnvoll ist, Metaphern aus einer Krankheit zu generieren. Hat das Virus eine Ideologie, die von Wirten verbreitet werden soll?
Totalitär vs. universell: Zwei konträre Weltmodelle, die um ihre Vorherrschaft im Kampf um die Transformation der Gesellschaft ringen. Mir scheint, dass beide Seiten ihre bereits vorhandenen Sichtweisen, Überzeugungen und Utopien in der Pandemie nur spiegeln würden und sie auf diese Weise deutlich verstärken. Das Virus ist in diesem Spiel ein Vexierbild, das, je nach Wissen und Interessenlage, unterschiedliche Betrachtungen ermöglicht. Viren bleiben einerseits gefährliche Eindringlinge, anderseits sind sie unentbehrliche lebensstiftende Elemente, mit denen sich alle komplexen Lebensformen bilden. Mit 10³¹ Individuen sind Viren die meistverbreitete und zugleich am wenigsten verstandene Lebensform auf unserem Planeten. Weniger als ein Prozent sind überhaupt krankheitserregend. Neben Zellen generierenden Viren gibt es auch solche, die Krebszellen bekämpfen können… Primitiv oder doch hochkomplex?
Eine Sache ist jedoch sicher: Das Virus Sars-Cov-2 führt uns die Grenzen des Wissens vor. Wir setzen uns der Erfahrung des Nicht-Wissens aus und schauen der Ungewissheit direkt in die Augen, denn niemand kann genau sagen, was geschieht und noch alles geschehen wird.
Die Verkettungen zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung sind (auch im Anthropozän) nicht unmittelbar erfahrbar. Die Auswirkungen einer Handlung im Hier und Jetzt werden irgendwo und irgendwann manifest, überall und jederzeit. Noch nie war der Schmetterlingseffekt verständlicher als zu diesem Zeitpunkt. Die Informationsgesellschaften vermitteln jedoch das Gefühl, dass ein globaler Überblick und eine totale Kontrolle möglich wären. Es bedarf also eines grundlegend anderen Ansatzes, um Sensibilitäten zu entwickeln, die einem Streben nach totalem Überblick entgegenwirken können beziehungsweise die Unübersichtlichkeit der Prozesse offenlegen und konstruktive Annäherungsstrategien mit Unsicherheiten anbieten. Doch allein mittels Faktenchecks und Wissenschaft lässt sich das Problem nicht lösen. Denn auch die Wissenschaft besitzt einen eigenen Drang, alles zu erfassen, begreifen, katalogisieren und im Blick zu behalten. Auch sie hat eine systemische Neigung zur Kontrolle und erhebt einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Was fehlt sind Techniken, die die Grenzen des Wissens genauer eruieren, die Wissenslücken und Leerstellen erkennbar machen und kultivieren. Die Akzentuierung des Unbekannten und die Aufrechterhaltung der Offenheit und der Ambiguität sind innerhalb der wissenschaftlichen Praxis weniger gängig. Vielmehr liegt es in der Natur der Künste, ständig Risse im Schutzschirm des Gewohnten zu kreieren und existierende Ordnungs- und Wissensregime zu hinterfragen, damit der "große Rest" – das Unbekannte, das Verborgene, das Offene und das Unausgesprochene – sein Antlitz zeigen kann.
Hineinfühlen in die semantische Null
Vieles steht still und hängt in der Luft. Die Welt, die man kannte, dreht sich gerade nicht mehr. Auch das neue ifa-Projekt EVROVIZION.CROSSING STORIES AND SPACES, das im Juni diesen Jahres mit einem Get-together und einem Symposium hätte beginnen sollen, wird erst einmal nicht beginnen dürfen – unter anderen Homi Bhabha und viele andere interessante Gäste, auf die ich mich sehr gefreut habe, werden nicht zusammenkommen können. Wir alle, die an Begegnungen glauben und diese dann auch in Szene setzen wollen, werden uns vorerst nicht begegnen.
Dafür findet die Begegnung ohne uns statt und wird dadurch vielleicht etwas ehrlicher als erwartet. Es kommt mir vor, als ob die Subalterne endlich mal für sich spricht und eine Art Vorwort vorträgt. Es ist die Nicht-Begegnung, die sich gerade vorstellt.
Nichtstun heißt auch auf die Bedingungen des unsichtbaren Restes eingehen zu können. Das Unvermögen anderen zu begegnen, zu reisen oder irgendwo aufzutreten und für sich zu sprechen, zeichnet die absolute Mehrheit der Weltbevölkerung aus. In der Zwangspause werden die eigenen Gewohnheiten sichtbar und der unterdrückte Rest tritt zum Vorschein. So auch die Umrisse derer, von denen wir nicht wussten, dass sie gerade die Wichtigeren sind, und die wir fälschlicher Weise zur Peripherie zählten. Neue Denkweisen benötigen Auszeit von der Normalität und Zeit für einen Tiefgang, um die Komplexe dieser Welt besser spüren zu können.
Es ist die semantische Null, in die es sich lohnt lange hineinzufühlen, um schließlich gewissenhaft gestehen zu können, dass keiner weiß, was wirklich vor sich geht. Das ist eigentlich ein guter Anfang.