Ausstellung, die reist, wächst und sich kontinuierlich ändert

Interview
30.01.2022

Die Kuratorin von EVROVIZION.CROSSING STORIES AND SPACES Sabina Klemm sprach mit Novi magazin über das Projekt.

© Sabina Klemm

Im Museum für zeitgenössische Kunst der Vojvodina wird derzeit die Ausstellung EVROVIZION.CROSSING STORIES AND SPACES des ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) präsentiert. Die Ausstellung, die noch bis zum 27. Februar zu sehen ist, setzt sich mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation in Europa und der Idee der europäischen Identität auseinander. Sie wird in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Serbien realisiert und ist Teil des Programms Novi Sad – Kulturhauptstadt Europas 2022. Kuratorin Sabina Klemm spricht mit dem Novi magazin über das Projekt und die Arbeit des ifa.

Wie ist vor der konkreten Umsetzung die Idee zur Ausstellung EVROVIZION entstanden?
Die Idee für das Projekt hat nach und nach Gestalt angenommen. Während meiner langjährigen Tätigkeit als Projektleitung am ifa hatte ich die Gelegenheit, zahlreiche Tourneeausstellungen zu produzieren und zu betreuen. Das hat mir geholfen, das einzigartige Potenzial eines Projekts dieser Art zu erkennen. Schließlich verändern wir uns auf Reise. Indem wir die anderen und das andere kennenlernen, werden wir mit uns selbst und mit unseren bestehenden Vorurteilen konfrontiert. Warum sollten die Tourneeausstellung und ihre Akteur:innen nicht denselben Prozess durchlaufen? Daraus entstand die Idee eines Formats, das Transformation ermöglicht. Der Fokus lag darauf, innerhalb des Projekts „leere Räume“ für ko-kreative Prozesse und lokale Kontexte zu schaffen. Und von Anfang an war klar, dass das Thema Europa ist und dass es aus einem Blickwinkel betrachtet werden sollte, der außerhalb des Westens liegt. Daher entstand als Idee zunächst das Format: eine Ausstellung, die reist, wächst und sich kontinuierlich verändert.

Sie haben die Ausstellung mit Sanja Kojić Mladenov kuratiert. Wie sieht der Prozess der gemeinsamen Kuration aus und wie haben Sie in diesem Sinne Entscheidungen getroffen?
Die Zusammenarbeit mit Sanja Kojić Mladenov hat bereits Anfang 2019 begonnen, als wir uns bei der Präsentation der ifa-Tourneeausstellung Kunstraum Deutschland in Novi Sad kennengelernt haben. Wir haben die Ausstellung im Museum für zeitgenössische Kunst der Vojvodina in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Serbien präsentiert. Ich bin nach Novi Sad gereist, um einerseits an der Eröffnung der Ausstellung teilzunehmen und um andererseits die Kunstszene der Region für die neu geplante Ausstellung zu erkunden. Die außergewöhnliche Arbeit der Kuratorin Sanja Kojić Mladenov und ihre Kenntnis der Region waren mehr als beeindruckend. Das war im Grunde schon der Beginn unserer Zusammenarbeit. Dann hat das ifa Sanja Kojić Mladenov nach Stuttgart eingeladen. Wir haben sehr schnell mit der konkreten Entwicklung von Konzepten und Themen rund um Europa begonnen und die Hauptausstellung konzipiert. Gemeinsam haben wir alle Künstler:innen ausgesucht, bestehende Werke ausgewählt und Neuproduktionen unterstützt. Wir befinden uns ständig in einem intensiven ko-kreativen Prozess, sowohl miteinander als auch mit den Künstler:innen, Techniker:innen und lokalen Partner:innen, und wir entscheiden alles gemeinsam. Respekt, Vertrauen, Offenheit für Neues und Unbekanntes und ein gemeinsames Ziel sind die tragende Kraft unserer Teamarbeit.

Die Ausstellung wird in 12 Städten gezeigt − wie verändert sie sich durch diesen räumlichen Transit und was ist das Besondere an der Präsentation in Novi Sad, also der Ausstellung im Museum für zeitgenössische Kunst der Vojvodina?
Die Ausstellung EVROVIZION ändert sich durch mehrere Faktoren. Zunächst einmal entsteht die Veränderung ganz natürlich durch die Räume selbst, da die Ausstellung jedes Mal in einem anderen Raum präsentiert wird. Diese Veränderungen sind für eine Tourneeausstellung im Grunde nichts Neues. Ein Novum ist jedoch die Integration von (neuen) lokalen Kunstwerken in die Ausstellung, die dann mit dieser weiterreisen: Gezeigt werden Werke von Künstler:innen aus Serbien, darunter Monument: No One is Lost von Ivana Ivković und Disturbed Soil von Vladimir Miladinović, die auch in den nachkommenden Städten der Tournee und damit in einem neuen lokalen Kontext präsentiert werden.

Ein weiteres Beispiel für den ko-kreativen künstlerischen Prozess ist die Arbeit Room to Negotiate des Künstlers Adnan Softić, die sich während der Tournee durch den Austausch mit lokalen Akteur:innen verändern und dabei wachsen wird. Während Softić in Bosnien und Herzegowina zusammen mit dem Schriftsteller Darko Cvijetić das neue Werk The Red Solitaire konzipierte, produzierte er in Serbien in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller László Végel das Kunstwerk Novi Sad – Atina. Nicht zuletzt möchte ich die Arbeit der Künstlerin Johanna Diehl erwähnen. In der Ausstellung sind drei ihrer Fotografien zu sehen: Braclav, Souskiou, Cyprus (South) und Karavas/Alsançak, Cyprus (Nord). Auch diese Fotoserie wird durch die Reise wachsen: Diehl erkundet Räume in ausgewählten Städten, die dann auch in ihren neuen Fotografien sichtbar werden. In Sarajevo fotografierte sie z. B. Räume des Widerstands, welche in der Serie Archipelagos of Resistance* zu sehen sind.

Sowohl die Zeitschriften als auch die Website des Projekts unterstreichen diesen „Archivcharakter“ der Reise. In Zusammenarbeit mit örtlichen Akteur:innen wird für jede Stadt ein neues lokales Magazin herausgegeben und die Website selbst spiegelt den prozesshaften Charakter des Projekts wider. Daher wird auch Novi Sad durch die lokalen Arbeiten, das Magazin und die Website sichtbarer.

Eines der Ziele der Ausstellung ist die „kontinuierliche Entwicklung des Dialograums“. Was sind diese Dialogfelder aus Sicht einer künstlerischen Arbeit, also des Ausstellungssettings von EVROVIZION?
Die Antwort auf diese Frage ist im Wesentlichen schon in meiner vorherigen Antwort enthalten. Ich kann nur noch hinzufügen, dass wir durch ein vielfältiges Programm und die Kunstwerke selbst innerhalb der Ausstellung „Dialogräume“ schaffen, die aber nicht unbedingt mit dem physisch vorhandenen Raum der Ausstellung verbunden sind. Denn sie entstehen überall dort, wo Menschen mit unterschiedlichem Wissen oder aus unterschiedlichen Kulturen zusammenkommen und im Kontext des Projekts über den Inhalt diskutieren. In diesem Kontext entstehen ein neuer Raum und neue Inhalte, die im Kern dynamisch sind. Daher kann das EVROVIZION-Projekt selbst als Ausgangspunkt für die Schaffung eines Dialogs angesehen werden, und durch die Reisen entstehen kontinuierlich neue Inhalte, die in der Ausstellung sichtbar sind.

Wenn wir die Balkanregion als Halbperipherie betrachten, in welcher Beziehung steht sie zum Zentrum und in welcher Weise wird diese Beziehung von den Arbeiten dieser Ausstellung thematisiert?
Diese sogenannten Halbperipherien und Orte der Vielfalt werden in vielen internationalen theoretischen Debatten und Ausstellungspraktiken vernachlässigt, und EVROVIZION bemüht sich, Licht auf diese weniger sichtbaren und marginalisierten geopolitischen und kulturellen Räume zu werfen. Und die Orte in Südost-/Osteuropa, zu denen auch der Balkan gehört, spielen hier eine besondere Rolle. Die in der Ausstellung präsentierten künstlerischen Positionen beleuchten dieses Thema unter verschiedenen Aspekten: So geht es um Herkunft und Identität (Nevin Aladağ), persönliche Erinnerung und kollektiven Glaube (Igor Bošnjak), Geschichten und Mythologien (Vajiko Chachkhiani), Erinnerungspolitik und neoliberalen Umgang mit Traumata (Lana Čmajčanin), Präsenz des Abwesenden (Johanna Diehl), persönliche Erfahrungen und kollektives Gedächtnis (Petrit Halilaj), Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschlechterrollen (Ivana Ivković), Neubetrachtung des kollektiven Gedächtnisses (Vladimir Miladinović), Mechanismus der Radikalisierung (Henrike Naumann ), koloniale Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Janine Jembere), posthumane Mythologie und Archäologie der Zukunft (Emilija Škarnulytė), kollektive Selbstemanzipation unterdrückter Frauen (Selma Selman), Sprache, Ritual und Identitäten (Slavs and Tatars) und nicht zuletzt um das historische und politische Gedächtnis (Adnan Softić). Als ein Beispiel möchte ich die Arbeit Balkangreuel – Cruelty of the Balkans der Künstlerin Lana Čmajčanin hervorheben, die speziell den Balkan thematisiert. Čmajčanins installative Arbeit kombiniert den Wiener „Toile de Jouy“-Stil mit Motiven aus der 1909 erschienenen Karte Balkangreuel, die auf die österreichisch-ungarische Annexion direkt Bezug nimmt. Dabei sind Szenen zu sehen, in denen Balkansoldaten barbarische Taten verüben, darunter brutale Übergriffe auf Frauen. In diesem Zusammenhang zeigt Čmajčanin die Entstehung von Vorurteilen und legt die Mechanismen hinter der angeblich zivilisierten Selbstdarstellung, aber auch die unverkennbare Vielfalt der Völker des Balkans offen.

Die Ausstellung beschäftigt sich mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation in Europa und der Idee der europäischen Identität. Was ist für Sie die europäische Identität und was waren für Sie aus Sicht der Ausstellung zentrale Aspekte in diesem Zusammenhang?
EVROVIZION ist bestrebt, weniger sichtbare Räume zu beleuchten, die durch ihre komplexe Geschichte, Multikulturalität, ethnische und religiöse Vielfalt und durch die transformativen Prozesse, die sie durchlaufen, eine wichtige Rolle beim Umdenken und bei der Schaffung von Gemeinschaften spielen. Wir hoffen, dass durch die Reise in ausgewählte Städte – nach Sarajevo (Bosnien und Herzegowina), Novi Sad (Serbien), Nikosia (Zypern), Athen (Griechenland), Warna (Bulgarien), Tiflis (Georgien), Chișinău (Moldawien), Brüssel (Belgien), Krakau (Polen), Kaliningrad (Russland) und Vilnius (Litauen) − am Ende eine Sammlung verschiedener Geschichten entsteht und wir so die sogenannte Idee der europäischen Identität noch einmal vertiefen können.

Was erwartet uns an der Endstation in Berlin und wird diese Kulisse eine Art Epilog der Reise darstellen?
Wir wissen nicht, was uns erwartet, denn alles ist unvorhersehbar und alles befindet sich im Prozess und in der Transformation – und dies ist unser Ziel. Tatsache ist, dass am Ende der Tour eine andere Ausstellung als die ursprüngliche präsentiert wird. Diese wird auf ihrer Reise durch verschiedene Räumlichkeiten die Geschichten Südosteuropas sammeln. Wir gehen davon aus, dass in Deutschland neue Diskurse eröffnet werden und vielleicht ein neues, uns bisher unbekanntes Bild von Europa gezeigt wird.

Das Interview wurde geführt vonNikola Marković.
Gekürztes und aktualisiertes Interview.

#Evrovizion